Ausstellungen
Eröffnungsrede von Michael Becker, Schulleiter
Sehr geehrte Damen und Herren,
welcher Status der Fotografie gegenüber den anderen bildnerisch-künstlerischen Disziplinen, also vor allem gegenüber Malerei, Grafik, Bildhauerei, Aktionskunst zukommt, das hat mich bereits einige Zeit beschäftigt. Denn offensichtlich steckt in der Fotografie ein unvergleichliches Potential, aus dem spezielle künstlerische Möglichkeiten abgeleitet werden können, die den bildnerisch-künstlerischen Ausdrucksmedien versagt bleiben. Meiner Überzeugung nach käme es darauf an, die rein fotografischen Möglichkeiten künstlerisch zu nutzen und zu wirkungsvollem Einsatz zu bringen, um das fotografische vom bildnerischen Arbeiten explizit abzugrenzen. Erst dadurch kann meiner Überzeugung nach überhaupt die Autonomisierung der künstlerischen Fotografie gelingen, dass sie sich über ihre eigenen Möglichkeiten und Chancen des Ausdrucks bewusst wird und diese zum Einsatz bringt, ohne die Materialgesetzlichkeiten der bildenden Kunst beleihen zu müssen.
Immerhin leistet die Fotografie im Gegensatz zu den bildnerisch-künstlerischen Disziplinen ein authentisches 1-zu-1-Verhältnis zu ablichtbaren realen Konstellationen der visuellen Wirklichkeit. So ist ein bestimmter Punkt auf der Fotografie authentischer fotomechanischer Repräsentant eines Punktes, der in der visuellen Wirklichkeit tatsächlich existiert oder existierte. Diese Tatsache begründet den konservativen, da dokumentarischen Charakter der Fotografie. Nun käme es für eine künstlerische Fotografie gerade darauf an, auf der Grundlage der konservativen Eigenschaften der Fotografie ein neues, also gerade unkonventionelles Sehen zu etablieren, und dies mit rein fotografischen Mitteln: nämlich mit dem fotografischen Ausschnitt und dem geschulten Sehen und intuitiven Erspüren von ungewöhnlichen Gestaltkonstellationen (Kompositionen), die allerdings die Wirklichkeit und nicht der Fotograf erzeugt oder ein anderer Künstler gestaltet hat.
Erst der geübte und sensible Blick für real existierende und von der Realität selbst produzierte Gestaltkonstellationen sowie die Würdigung und damit Nichtverleugnung des objektiven Zufalls sind die Voraussetzungen für eine Fotografie als autonome Kunstform. Eine künstlerische Fotografie muss über eine bloße Abbildung der Realität hinaus durch einen prägnanten räumlichen wie zeitlichen Ausschnitt zum Träger einer verdichteten Bedeutung werden.
Der Fotograf sucht den Klang, das Ungewöhnliche, das Erschütternde, Aufwühlende, zum Nachdenken Anregende in der Realität, also in Kompositionen, die bereits in der Realität vorliegen, aber natürlich vom Fotografen aufgrund seines scharfen Sehens überhaupt erst entdeckt werden müssen.
Wir im Fachbereich Fotografie suchen zunächst nach sogenannten Tonalitätsbezügen – ein zentraler Ausbildungsbereich unseres Grundlagenstudiums – und suchen entsprechend nach einem tonalen Klang. Daraus speist sich auch der Titel der Fotografie-Ausstellung: FoTonale. Nicht etwa ein bombastisches und vor allem quantitativ überbordendes Fotografie-Ausstellungs-Spektakel vergleichbar einer Biennale der bildenden Künste, sondern bescheidene und den Entwicklungsstand jedes Einzelnen repräsentierende fotografische Studienarbeiten, die tonale Werte aus der visuellen Wirklichkeit abschöpfen.
Diese tonalen Werte sind es, die das Sehen um seiner selbst willen kultivieren, wo im Betrachter einfach mehr passiert als nur: Ich habe es registriert. Eine besondere Lage, eine ungewöhnliche Konstellation von Elementen innerhalb der Bildfläche, bestimmte Kontrastsituationen können das Sehen so aktivieren, dass nicht mehr einfach nur die abgebildeten Gegenstände, sondern deren Beziehungen im Vordergrund der Aufmerksamkeit stehen, die in sich Musik enthalten. Tonale Klänge der Realität werden derselben gleichsam abgerungen und dem Betrachter vor Augen geführt. Der musikalische Zusammenhang der Welt wird offenbart.
Doch was ist denn überhaupt das visuelle Äquivalent zum musikalischen und damit hörbaren Klang? Worin soll sich denn der stumme Gegenstand überhaupt als musikalischer Klang erweisen? Ganz einfach: Eben nicht allein im Gegenstand, sondern in den proportionalen Bezügen, also in den Verhältnissen, Beziehungen von ästhetischen Eigenschaften zueinander bzw. was diese im Betrachter freisetzen. Vergleichbar zu dem, wie akustische Töne zueinander in bestimmte, vom Komponisten gestaltete Beziehungen gebracht werden, werden in der bildenden Kunst visuelle Töne, ästhetische Qualitäten in eine gestaltete Beziehung gebracht, in der Fotografie bereits von der Realität gestaltete Beziehungen entdeckt und anschaulich gemacht.
Der Fotograf ist damit der eigentliche Entdecker der Welt in ihrer klanglichen Konstituierung. Dabei wird durch die kreative Verwendung der fotografischen Mittel ein persönlicher Bezug zum klanglichen Substrat der Welt eröffnet. Der Begriff Person setzt sich nun nicht umsonst aus den lateinischen Begriffen per und sonus zusammen, also der, der „durch“ den „Ton“ oder „Klang“ ist: Per-Son könnte damit verstanden werden als ein Mensch, der durch den Klang zu sich selbst kommt, der den Klang der Welt in sich enthält, diesen verspürt und artikuliert. Die fotografische Person wäre damit eine privilegierte Instanz, zum Wesen der Welt vorzudringen.
Das sind natürlich große Worte, aber vielleicht können Sie uns aufgrund dieser Ausführungen etwas besser verstehen: Denn das Ungewöhnliche oder gar Merkwürdige dieser Arbeiten hier in den Räumen besteht ja offensichtlich darin, dass sie gar nicht so sehr den Gegenstand selbst in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken, ggf. sogar keinen besonderen Gegenstand präsentieren, der sich vielleicht Ihrer Meinung nach „lohnen“ würde... Das scheint mir allerdings gerade der wichtigste Aspekt zu sein, in dem eine authentische Fotografie ihre Wurzeln hat: Dass sie Momente zu steigern vermag, die über das bloß zu Sehende oder auch zu Erwartende hinausgehen, die das rein Sichtbare transzendieren, die dem Betrachter eine andere Ebene des Bewusstseins suggerieren – dass Fotografie sozusagen zwischen den Zeilen, zwischen den Dingen Erkenntnisse über die Beschaffenheit von Welt herausliest.
Fotografie verleitet zum Aktionismus und zur Oberflächlichkeit. Motive sind in Windeseile abgelichtet, der persönliche gestalterische Bezug zu den bereits vorhandenen Beziehungsstrukturen in der visuellen Realität fehlt, man bleibt auf Distanz, ohne in den Gestaltungsprozess der Realität einzugreifen. Daher erweist sich gerade für die Fotografen die Theorie und die mit ihr verbundene Sinnesschulung als unverzichtbar, da sie die Studierenden vor einem Abdriften in ein willkürliches Arbeiten bewahrt. Gerade das Synthetische Zeichnen ist bei uns immer eine entscheidende interdisziplinäre Ergänzung zum fotografischen Arbeiten gewesen und fördert das strukturelle Sehen ungemein.
Damit sind diese Arbeiten hier als Experimente zu verstehen, sich auf die Welt mit anderen als üblichen Mitteln einzulassen, um etwas aus ihr zu ziehen, das jedem einen Erfahrungszuwachs versprechen sollte.
Unsere vier Ausstellungskandidaten haben sich dieser Aufgabe gestellt und treten ab heute mit Ihnen in eine etwas andere Form der Kommunikation ein. Es sind: Marco Stolz, 1. Semester, Bernd Harth und Christoph v. Löw 2. Semester sowie Norbert Weber aus Saarbrücken, der an der wfk das Fernstudium Künstlerische Fotografie belegt.
Der Dank gilt ihnen sowie natürlich Frau Christel Käßmann, unserer Dozentin für Künstlerische Fotografie!
Ich wünsche Ihnen einen einsichtsreichen Rundgang! Und übrigens viel Spaß mit den musikalischen Beiträgen.
Vielen Dank!
Michael Becker / Schulleitung
Wiesbaden, den 01.06.2008